"Wir können alles schreiben. Bis auf das, wozu wir keine Lust haben."
Ulrike Gerold, Literarisches Speeddating, Hannover 2019
Ulrike Gerold, Literarisches Speeddating, Hannover 2019
Temporärer Sommerschreibplatz, August 2018 im Hinterhof in Berlin (Foto: Blumenfeld)
Ulrike Gerold/Wolfram Hänel
ÜBERS SCHREIBEN Sollten Sie uns kennenlernen, wenn wir an einem neuen Buch schreiben, dann haben Sie Pech gehabt. Jedenfalls werden Sie kaum viel Spaß mit uns haben, womöglich werden Sie sogar denken, dass mit uns irgendwas nicht stimmt. Aber dann fragen Sie erstmal unsere Freunde, wie die uns erleben! Wenn wir schreiben, kann es zumindest bei Wolfram passieren, dass er zum Einsiedler wird. Dann kann er es tagelang aushalten, keine Freunde zu sehen und auch mit niemandem zu telefonieren. Ohne Ulrike, die sich immer wieder bemüht, wenigstens ein paar soziale Kontakte zu pflegen, hätten wir vermutlich schon kaum noch Freunde. Besonders schwierig wird es abends. Oft sind wir noch so verstrickt in das, was wir gerade schreiben, dass jedes Gespräch mit anderen das vermeintliche Risiko birgt, viel zu sehr abgelenkt zu werden und am nächsten Tag womöglich nicht mehr so ohne Weiteres zurückzufinden in die Welt unserer gerade entstehenden Geschichte. Auch Bücher lesen ist ganz gefährlich! Es gibt ja Bücher, die einen im wahrsten Sinne des Wortes „entführen“, in ihren ganz eigenen Kosmos, der einen dazu treibt, immer weiter zu lesen – und nicht mehr zu schreiben! Die Lösung heißt Fernsehen. Fragen Sie nicht, wie viele Abende wir gemeinsam vorm Bildschirm hocken und uns Filme reinziehen. Und wir gestehen: Wir sind echte Serien-Junkies! Neben amerikanischen (Krimi-)Serien wissen wir vor allem britische und skandinavische sehr zu schätzen – weil sie zum Glück häufig nicht so belanglos sind, dass sie schon nach kurzer Zeit nur noch nerven. Beim Schreiben am Roman über die Karl-Marx-Allee haben wir erst alle Folgen von „True Detective“ und „The Bridge“ gesehen, danach dann „Peaky Blinders“ und schließlich „Code 37“. Das ist zwar eine belgische Serie, hat unsere Erwartungen aber vollständig erfüllt: Zwei Staffeln Mord und Totschlag und furchtbare Abgründe der menschlichen Psyche, und das alles auch noch mit einer ziemlich coolen und nur leicht gestörten Kommissarin als Hauptfigur. Großartig! Bis zu drei Folgen haben wir jeden Abend geschafft, bevor wir dann zufrieden ins Bett gegangen sind. „Babylon Berlin“ wurde leider erst ausgestrahlt, als wir schon fast fertig mit unserem Roman waren. Aber vielleicht war das auch besser so! Manchmal ist es schwierig, etwas zu sehen, was thematisch sehr dicht an dem Thema ist, über das wir gerade arbeiten. Dann gibt es zu viele Momente, in denen wir begeistert rufen: „Das wäre ja auch noch ein Motiv, das wir einbauen könnten!“ Aber zu viel ist nie gut, ab einem bestimmten Zeitpunkt müssen wir uns voll und ganz auf das konzentrieren, was wir in unserem Handlungsgerüst festgelegt haben, um nicht in Versuchung zu geraten, möglichst ALLES unterzubringen. Das gilt im übrigen auch für die Ergebnisse der Recherche: Von hundert wissenswerten Fakten können wir vielleicht nur zehn so einarbeiten, dass sie sich nahtlos in unsere Geschichte fügen. Alles andere brauchen wir für uns als Hintergrund, im Roman würde es nur dazu dienen, unter Beweis zu stellen, wie groß unser Wissen ist. Und das will niemand wissen! Diese Auswahl zu treffen und die richtigen Bilder zu finden, ist nicht immer leicht und häufig auch mit einem Stück Bedauern darüber verknüpft, was wir alles NICHT erzählen konnten. Sobald ein Buch fertig ist, sehen wir uns übrigens keine Serien mehr an, sondern wieder richtige Spielfilme! So was wie „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“. Und lesen auch wieder Romane von anderen Leuten: "Torstraße 1“ und „Bühlerhöhe“ zum Beispiel, um mal zwei Bücher zu nennen, die wir uns nach der Karl-Marx-Allee gerne gegönnt haben. Oder Silvia Bovenschens „Sarahs Gesetz“, was uns beide so beeindruckt hat, dass wir sofort damit begonnen haben, uns Notizen für eine neue und völlig andere Geschichte zu machen. Wäre uns das passiert, als wir noch „Allee unserer Träume“ geschrieben haben, wäre es fatal gewesen! Wenn ein Manuskript fertig und vom Verlag „abgesegnet“ ist, versuchen wir vorsichtig, uns im Alltagsleben wieder zurechtzufinden. Manchmal waren wir dann so lange in unserer eigenen Welt vergraben, dass uns Partys und gemeinsame Essen mit Freunden vollkommen unvertraut vorkommen. Ebenso wie die Spaziergänge mit dem Hund, der es durchaus zu schätzen weiß, wenn vor allem Wolfram nicht mehr alle paar Meter stehenbleibt, um seinen Notizblock aus der Tasche zu ziehen und sich einen neuen Gedanken aufzuschreiben – sondern sich plötzlich wieder auf seine eigentliche Aufgabe als „Boss“ besinnt und Stöckchen wirft oder neue Kommandos trainiert. Dass wir zu Hause schreiben, ist eigentlich klar, oder? Ulrike oben unterm Dach und Wolfram am großen Tisch in der Küche. Ulrike am Computer, Wolfram mit einem Klemmbrett, Schmierpapier und Stift. Alle unsere Bücher sind in diesen beiden Räumen und auf diese Weise entstanden. Als wir das letzte Mal in irgendwelchen Büros gearbeitet haben, waren wir Anfang Dreißig. Zu Hause zu arbeiten ist cool. Und da wir ja nur die Treppe hoch oder runter müssen, um miteinander zu reden, können wir damit auch die vielzitierte Einsamkeit des Schriftstellers vermeiden – wir sind schlimmstenfalls zu zweit einsam!Aber tatsächlich hat unsere Zusammenarbeit noch einen ganz anderen Vorteil, wir sind zwar häufig einer Meinung, was den Plot einer Geschichte angeht, aber wenn nicht, dann streiten wir so lange, bis sich plötzlich eine Lösung auftut, auf die einer von uns alleine nie gekommen wäre. Und das ist nicht nur ein unschätzbarer Gewinn für die Arbeit, sondern rechtfertigt auch jeden Streit. Im Übrigen sind wir ja Profis und streiten uns also auch nicht mehr als unbedingt notwendig! Ansonsten gibt es feste Strukturen für den Tagesablauf, anders geht es nicht. Oder zumindest wir kriegen es nicht anders hin. Der Tag beginnt damit, dass der Hund raus muss. Das übernimmt morgens fast immer Ulrike. Wolfram beantwortet solange die ersten Mails, die eingegangen sind. Beim Frühstück machen wir häufig eine „To-do-Liste“, die so profane Dinge beinhaltet wie Einkaufen, Saubermachen, Auto zur Werkstatt – wir haben einen alten VW-Bus, der Punkt taucht also ungefähr so oft mal auf wie „Toilettenpapier besorgen“ oder „Geschirrspüler ausräumen“. Dann kochen wir Kaffee, eine Espressokanne für jeden. Dann verschwindet Ulrike mit der Tageszeitung nach oben, während Wolfram noch eine Weile auf dem Sofa liegt und vorgibt, sich auf die ersten Sätze zu konzentrieren, die er gleich schreiben wird. Manchmal leistet er sich aber auch einfach nur einen kurzen Moment völliger Entspannung. Und dann geht es los! Spätestens um elf. Dann schreiben wir. Wolfram unten und Ulrike oben. Wenn der Postbote klingelt, ist Wolfram dran, beim Telefon Ulrike. Der Postbote weiß, dass wir immer zu Hause sind, und bringt deshalb auch gerne die Pakete für die Nachbarn zu uns. Am Telefon versucht Ulrike, den Kontakt zur Außenwelt aufrecht zu erhalten und alle Freunde, die uns sehen wollen, auf einen unbestimmten Zeitpunkt in der Zukunft zu vertrösten, wenn wir fertig sind mit Schreiben. Wir arbeiten auch an Sonn- und Feiertagen. Aber nicht mehr nachts. Ersteres irritiert die Nachbarn sehr, Letzteres beruhigt sie wieder ein bisschen. Neulich hat jemand gefragt, ob wir beim Schreiben eigentlich Musik hören. Die Antwort ist ja und nein. Ulrike nie, Wolfram fast immer. Bei der “Allee unserer Träume“ war es Rod Stewarts „The Great American Songbook, Volume V, Fly Me To The Moon“ in endloser Wiederholung. Das hatte so wenig mit unserer Geschichte zu tun, dass es ohne jede Mühe genau die Funktion erfüllte, die es auch haben sollte: Eine zum Schreiben angenehme Atmosphäre zu schaffen, ähnlich der Hintergrundmusik im Supermarkt, nur nicht so blöd. Natürlich haben wir uns zusammen auch immer wieder Musik aus der Zeit angehört, über die wir gearbeitet haben. Lieder von Brecht, die in unserer Geschichte erwähnt werden, ebenso wie unzählige Schlager von den 30er bis zu den 50er Jahren, von „Paula mach die Bluse zu“ bis zu „Der Berliner liebt Musike“ und „Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien“. Und glauben Sie Wolfram ruhig, dass er froh war, am nächsten Tag wieder mit Rod Stewart starten zu dürfen! Wenn wir gut sind und uns nicht allzu sehr ablenken lassen, schaffen wir vier bis fünf Seiten Text am Tag. An der Arbeitsfassung von „Allee unserer Träume“ haben wir knapp sechs Monate geschrieben, insgesamt hat es von der ersten Idee bis zum fertigen Manuskript ziemlich genau vier Jahre gedauert. In dieser Zeit haben wir allerdings zunächst auch noch Texte, Exposés, Konzepte für andere Bücher verfasst, bis es dann nur noch um die Karl-Marx-Allee ging. Und wir sind natürlich auch von Anfang an unser eigenes Lektorat, bevor der Verlag später noch eingreift. Das heißt, wir machen auch immer wieder schon erste Korrekturen am Text – und vor allem Veränderungsvorschläge, über die wir später wieder streiten können. Was dann meistens am frühen Abend am großen Tisch vor der Bücherwand passiert, nachdem Wolfram die zweite Hunderunde übernommen hat und mit noch mehr Notizen für weitere Änderungen zurück ist. Dann essen wir was und dann gucken wir Fernsehen. Siehe oben. Wir essen übrigens gerne alles, was produziert wurde, ohne dass irgendwelche Tiere dafür gequält worden sind. Und solange wir schreiben, trinken wir auch keinen Alkohol. Nur manchmal ein Glas Rotwein, wenn es gar nicht mehr anders geht. Aber Alkohol hat die unangenehme Eigenschaft, dass er nur für einen Moment „beflügelt“, und mit Kopfschmerzen schreibt sich’s nicht besonders gut. Empfehlen möchten wir aber dennoch unbedingt den Blauen Zweigelt der Winzergenossenschaft aus Freyburg an der Unstrut. Oder Guinness. Guinness geht immer. Klingt alles sehr strukturiert – und vielleicht auch ein bisschen langweilig. Ist es aber nicht! Weil ja jede Geschichte und jedes Kapitel uns immer aufs Neue mit einer Welt konfrontiert, die wir so gestalten können, wie wir es gerne hätten. In der jeder Dialog und jede Handlung nur von uns bestimmt wird, und in der es zunächst mal ganz allein unsere Figuren sind, die wir da agieren lassen, lange bevor der Leser sie kennenlernt und sie sich – im besten Fall – zu eigen macht. Zurzeit gehen wir gerade wieder auf Partys. Und telefonieren auch viel oder treffen irgendwelche Leute, nur so, um ein bisschen zu plaudern. Unser Roman ist fertig, wir können es uns also auch leisten, nicht mehr still zu sein. Und wir sind glücklich, wenn wir das Gefühl haben, dass der Kontakt nicht abgebrochen ist und wir wieder Teil des Lebens unserer Freunde sein können. Aber gleichzeitig freuen wir uns auch schon auf die Arbeit am nächsten Buch. Bei „Code 37“ gibt es nämlich noch eine dritte Staffel, die wir bislang nicht kennen! (Berlin, September 2018) |