"'Stil' bedeutet immer die Abweichung von der sprachlichen Norm.
Das muss auch - und womöglich insbesondere - für Autoren von Kinder- und Jugendbüchern gelten."
(Wolfram Hänel, Morawietz-Preisverleihung, Hannover 2001)
Das muss auch - und womöglich insbesondere - für Autoren von Kinder- und Jugendbüchern gelten."
(Wolfram Hänel, Morawietz-Preisverleihung, Hannover 2001)
Laudatio 1
Wilfrid Grote:
Laudatio für den Kurt-Morawietz-Literaturpreisträger Wolfram Hänel
Künstlerhaus Hannover; 13. Februar 2001
Die Horen, Literaturzeitschrift
Er kann es nicht lassen:
Ein Regenbogen der Bildlust
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
meine Damen und Herren, liebe Freunde, liebe Kinder. Mit einem etwas abgewandelten Satz des Aristoteles will ich mal behaupten: Schreiben ist das Tätigsein der Seele im Sinne der ihr wesenhaften Tüchtigkeit. Und aus dem Tätigsein der Seele heraus mit dem Anspruch, dem Leben den Alltag abzutrotzen, formt sich mir das Werk des Autors Wolfram Hänel. Seit ich Bücher lese, gehört die versponnene und gleichzeitig aus der Realität gewachsene Erzählung zu meiner Lieblingslektüre. Das beginnt mit “Hänsel und Gretel”, deren Zukunft sich aus der sozialen Not der Eltern entscheidet, dem also ein wirklich hartes Holzarbeiterschicksal zu Grunde liegt, und endet hoffentlich nicht mit Herrn Holtermann, der es im Verwaltungsapparat einer Versicherung nicht mehr aushält, sich risikoreich verändert, in seiner Familie Existenzängste auslöst und im Kopf seines Sohnes zum “Geheimpiraten” wird. In Wolfram Hänels Geschichten erlebe ich Abenteuer zwischen Wirklichkeit und Phantasie, zwischen den Mahlzähnen des Alltags und den tastenden Fingerkuppen des Träumens, Geschichten, die dem Autor enteilen und dem Leser überraschende Einsichten eröffnen. Aber nicht nur das, der Standort ist nicht so eindeutig in zwei feste Begriffe zu fassen und aufzuteilen! Man muss kein Analyse-Künstler sein, um zu erahnen, dass hier zwei Bereiche aufeinanderstoßen, die ohne Not zu einem einzigen verschmelzen. Und sie verschmelzen nicht nur, sie erhalten ihren völlig eigenständigen Charakter, in dem die Abläufe natürlich erscheinen, auch wenn die Natürlichkeit nur in der Phantasie nachvollzogen wird. Der Stil ist die Erschaffung einer neuen Realität. Nun frage ich mich ja sowieso täglich, wo die Realität beginnt und die Phantasie aufhört. Denn ist nicht auch der völlig aus den Fugen geratene Gedanke im Kopf, der Traum, nach dem ich Schweiß gebadet erwache, oder das nicht fassbare Gefühl Teil der Realität? Träume ich, frage ich, oder wache ich? Was ist wirklicher, das Wasser oder der Schatten, den es wirft? Wolfram Hänel lässt Purzelbäume schlagen. Dazu animiert er seine Figuren und mit ihnen seine Leser. Aus dem Langweiler Holtermann wird ein gefürchteter Pirat. Die ganze Realität Holtermanns ist also reine Tarnung. Auf dem Weg durch den Kopf des Autors entsteht ein Leben, das sowohl in der Tragik wie in der Komik des Geschehens zu ungewohnten Reaktionen verführt. Der Leser glaubt etwas zu wissen und wird vom Gegenteil überzeugt. Mit Witz und Hintersinn verhilft Hänel seiner Hauptfigur zu einem Auftritt als Traumfigur mit Traumberuf, was der Identifikationsfigur, Sohn Bruno, den Zugang zum täglichen Leben mit Freunden und Freundinnen überhaupt erst ebnet. Hänel lässt die Leser durch überraschende Wendungen der Handlung unerwartete Situationen erleben, die neue Lust auf den Fortgang der Geschichte machen. Zunächst dürfen wir an eine wunderschöne Liebesgeschichte glauben, die urplötzlich unterbrochen wird, und an deren Stelle ein völlig neues Bild auf anderer Ebene rückt. Das Vaterbild gerät ins Wanken und entwächst allen bisherigen Definitionen. Kaum finden wir uns in der neuen Ebene zurecht, führt uns der Autor zu den zarten Banden einer jugendlichen Gefühlsverwirrung zurück. Und noch während der Leser sich mit dem veränderten Anlauf anfreundet, spinnt der Autor im Hintergrund bereits neue Fäden, die ein festgefügtes Erzählgebäude zum Einsturz bringen werden. Er lässt seinen Phantasie-Bazillus schließlich die ganze Holtermannfamilie ergreifen. Im Würgegriff zügelloser piratischer Freiheit erblüht das Familienleben zu ansteckender Heiterkeit. Der Leser spaziert durch die Gemütsverfassung seiner handelnden Figuren wie durch einen kunstvoll angelegten Dschungel. Der leichte Umgang mit dem Spaß an leuchtenden Farben und aufregenden Formen liegt in unmittelbarer Nähe zu den widersprüchlichen Gefühlen, die fein aufeinander abgestimmte Töne oder auch schreckliche Laute auslösen können. Damit will ich sagen: Wolfram Hänel beteiligt seine Leser mit dem ganzen Regenbogen seiner Bildlust! Oft genug erscheinen mir seine Geschichten mit sensiblem Zugriff wie direkt aus den Erlebnisbereichen seines Publikums importiert. Sein Geheimnis besteht vielleicht darin, immer ein Ohr am Puls der Kinder und Jugendlichen zu haben. Seine Schilderungen allerdings richten sich inhaltlich und formal ebenso an Erwachsene. Damit lässt Wolfram Hänel die Definitionen Kinderbuchautor, Kindertheaterautor hinter sich. Er zieht Kinder wie Eltern gleichermaßen in Bann, schreibt für alle, für das Kind im Erwachsenen ebenso wie für das Erwachsene im Kind. |
Zu den vielschichtigen Ausdrucksmöglichkeiten zählt bei Wolfram Hänel eben auch das Theater. Sein Störtebeker-Monolog “Das Meer im Bauch” zeigt seinen gekonnten Umgang mit der wörtlichen Rede, die in Bildern auf der Bühne stattfindet, die nicht er selbst, sondern Schauspieler, Regisseure und Bühnenbildner bestimmen werden.
Was die wiederum gar nicht bestimmen könnten, gäbe ihnen der Autor nicht über dem Dialog die entsprechenden Hinweise für Zusammenhänge und Vernetzungen. Was auf der Bühne geredet wird, widerspricht unter Umständen der sichtbaren Handlung. Daher ist ein Theatertext immer nur ein Teil des Ganzen, nämlich der Inszenierung. Und für einen Autor auch regelmäßig eine große Überraschung! Natürlich erzählt Wolfram Hänel auch Geschichten, die sich klammheimlich beinahe ausschließlich an der Realität beweisen. Doch sind sie deshalb keineswegs eindimensional gestrickt. Im Gegenteil, er schafft es, sie durch den Kopf seiner Hauptfiguren von möglichst vielen Seiten zu beleuchten. Er macht dabei spannende Ausflüge in die tiefsten emotionalen Verwicklungen und Sehnsüchte seiner kleinen Mitwisser, wie zum Beispiel in dem Buch “Die wilden Ponies von Dublin”. Der dokumentarische Charakter des Textes wird von der ersten Zeile an überwunden und eröffnet eine mitreißende Sicht auf die Gegenwelt einiger Jugendlicher, die sich mit Hingabe für ihre Ziele engagieren. Hänels gesellschaftlicher Einsatz zeigt sich unleugbar verbunden mit dem heißen Kern des Romans, den Heranwachsenden Mut zu machen, der Zukunft eigenständig eine Perspektive abzuverlangen. Mit leichter Sprache segelt er durch seine Geschichten, wie ein Piratenschiff unter vollen Segeln in einer warmen Brise. Schlägt jedoch die Stimmung um, verändert sich auch die Sprache. In kurzen, abgehackten Sätzen etablieren sich böse Vorahnungen, in denen Schiffe, besonders aber Schicksale zu kentern drohen. Oder auch nicht, würde Wolfram Hänel hinzufügen, mal sehen! Genüsslich genau und treffsicher setzt er seine Wörter, macht den Leser neugierig auf die kleinen Dinge des Alltags, gibt ihnen so die ihnen eigene Bedeutung. Er weiß die Poesie der Sprache mit seinen an der Wirklichkeit gewachsenen Geschichten so gut zu verbinden, dass im Kern eine bizarre Irritation entsteht, an der der Leser lustvoll zu knabbern hat. Damit steuert er der Verarmung unserer Umgangssprache mit aller Kraft entgegen. Wenn wir heute den Kindern aufs Maul schauen, müssen wir leider nur zu oft feststellen, dass unsere Sprache möglicherweise gerade dabei ist zu verarmen. Neue Technik bedarf neuer Ausdrucksweise. Das sollte aber nicht dazu führen, die Sprache zu überlagern, bis sie nur unverständlich wird und sowohl Charakter wie Magie verliert. Oftmals beschränkt sich der Wortschatz gerade mal auf das Notwendigste, unfähig, Zwischentöne zu erfassen. Und es liegt eben nicht nur an den manchmal recht unbedarften Fernsehprogrammen, in denen eine Komiksprache übermächtig präsent ist, es liegt sicherlich auch an unser aller Sprachlosikgeit in einer kalten Medienwelt, durch die soziales Leben kaum mehr Anregung erhält. Wie gesagt, verarmt die Sprache, verarmen wir, oder umgekehrt. Wolfram Hänels Lust am Fabulieren, Assoziieren, Ausschmücken, Verführen und Hinführen macht neugierig auf mehr. Mit seiner Literatur fordert er dem Leser den ganz persönlichen Einstieg ab, das heißt der Leser oder der Theaterzuschauer müssen sich einlassen auf Sprachrhythmus und auf Inhalte, müssen sich auf den Autor einlassen, von dem sie sich dann entweder mit seiner ganzen Wortmagie packen und in das Geschehen hineinziehen lassen, oder aber sie werden vor dem Scheunentor stehen bleiben wie der berühmte Ochse. Er kann es einfach nicht lassen, seinen Lesern augenzwinkernd Löcher in den Weg zu legen. Das ist seine Art, sein Publikum zum Mitdenken herauszufordern und mit der Nase auf das richtige Leben zu stoßen, das richtige Leben, in das auch Hänsel und Gretel erst nach klugem und pfiffigem Einsatz finden konnten. Im Geiste der Postulate des alten Heraklit, alles fließt, alles ist in Bewegung, du steigst nicht zweimal in denselben Fluss, ta panta rei - bin ich gespannt auf die Dinge, die da noch kommen werden! Wilfrid Grote; München 2001* *Wilfrid Grote, 1940 in Hannover geboren, lebt seit 1967 in München. Er arbeitet seit 1978 vorwiegend für das Theater. Grote gilt als einer der Hauptvertreter des modernen deutschen Kinder- und Jugendtheaters. |
Wilfrid Grote und Wolfram Hänel, Künstlerhaus Hannover, 2001 (Foto: Uhlenhut)
Laudatio 2
VERLEIHUNG DES FRIEDRICH-GERSTÄCKER-PREISES
AM 13. NOVEMBER 2003 IN BRAUNSCHWEIG
Manfred Roth:
Laudatio auf das Jugendbuch "Irgendwo woanders"
von Ulrike Gerold und Wolfram Hänel
AM 13. NOVEMBER 2003 IN BRAUNSCHWEIG
Manfred Roth:
Laudatio auf das Jugendbuch "Irgendwo woanders"
von Ulrike Gerold und Wolfram Hänel
Sehr verehrte Damen und Herren,
"Wir halten diese Wahrheiten für selbstverständlich, dass alle Menschen gleich geschaffen worden sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit bestimmten unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind, zu denen Leben, Freiheit und Streben nach Glück gehören ..." Wer kennt ihn nicht, diesen einleitenden Text aus der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776. Und doch hat es mich schon in der Schule erstaunt und mit einem tiefen Gefühl der Befriedigung erfüllt, als ich zum ersten Mal davon hörte, dass hier zu den ganz elementaren Menschenrechten wie Leben, Freiheit und Gleichheit (die mir verwöhntem Mitteleuropäer doch ziemlich selbstverständlich erschienen) eben auch das Streben nach Glück gezählt wird. Das ist kein Luxusartikel, dieses Streben, sondern es ist Grundbedingung menschlicher, menschenwürdiger Existenz. Wohlgemerkt: Klugerweise wird uns nicht ein Recht auf Glück eingeräumt, einzig das Recht auf das Streben danach. "Pursuit of happiness" heißt das im Original, und pursuit heißt erst einmal wörtlich so etwas wie Verfolgung und Jagd, im übertragenen Sinne dann Trachten und Streben. Was anderes wird ihn also getrieben haben, den knapp 21jährigen Friedrich, der sich 1837 in Bremerhaven einschifft zu einer Reise, die er später "Streifzüge durch Amerika" nennen sollte. Jagdzüge könnte man auch hinzufügen. Es wird schon so etwas wie eine Glück-Suche gewesen sein. Die sicher nicht oft erfolgreich war, wenn wir mit dem Begriff Glück ein Ankommen, ein Erreichen verstehen wollen. Aber es ist der folgende Absatz, den Gerstäcker schrieb, als er sich aus der deutschen Ansiedlung in Arkansas verabschiedete, der mich stutzig macht: "Ich tröstete mich aber mit dem Gedanken, dass es allen ähnlichen deutschen Versuchen in den Staaten so erging. In keiner von ihnen fehlt ein kleiner Despot, der sich nach und nach entwickelt und damit mit dem Freiheitsgefühl der anderen nicht übereinstimmt. (...) Ich wusste allerdings nicht, wohin ich genau wollte, aber das war auch eigentlich immer meine geringste Sorge." Sicher treibt ihn das Ungenügen am status quo, der Freiheitsdrang, doch leuchtet deutlich hervor, dass er wohl ein nicht geringes Glück im Unterwegs-Sein per se gefunden zu haben scheint. Im Vorwort des Herausgebers fand ich lächelnd die Erklärung: "Sein Vater, ein gefeierter Tenor, musste durch seine Theaterverpflichtungen viel reisen und die Familie folgte ihm. So wurde dem jungen Friedrich die Reiselust quasi in die Wiege gelegt." Von Reiselust kann bei der zentralen Figur des Buchs, das heute mit dem FriedrichGerstäcker-Preis ausgezeichnet wird, zunächst gar keine Rede sein. Die gerade noch 14jährige Marei ist nicht sehr zufrieden mit der Situation, dass ihre Mutter als erfolgreiche Regisseurin durch ihre Theaterverpflichtungen viel reisen muss. Hier folgt die Familie nicht. Die Eltern leben getrennt, den Vater hat sie seit 10 Jahren nicht gesehen, sie lebt bei einer Freundin und seßhaften Theaterkollegin der Mutter in Hildesheim. Doch das wissen wir alles noch nicht, wenn wir Wolfram Hänels und Ulrike Gerolds Buch aufschlagen. Der erste Satz lautet: "Er hatte alles anders machen wollen." Darin ist viel Ungenügen an der Welt, viel Veränderungswille, aber eben auch schon ein Stück Resignation enthalten. Ein Aussteiger, der sich festgefahren hat. Das ist der Vater. Und das Kapitel nennt sich Vorspiel. 370 Seiten später im Kapitel Nachspiel resümiert die Mutter ihre Ausgangsposition: "Aber irgendwann war ihr plötzlich klar geworden, dass sich etwas ändern musste, wenn sie ihre Tochter nicht ganz verlieren wollte. Dass sie etwas ändern musste..." Also: Er hatte es anders machen wollen, sie musste etwas ändern, das Buch heißt "Irgendwo woanders" - dass es hier um Veränderung gehen wird, machen uns die Schreiber ziemlich schnell klar. Christiania, wo der Vater lebt, steht für institutionalisierten Veränderungswunsch, für Aussteigertum, das zur Touristenattraktion zu verkommen droht. Stoneheaven, der Name der neugeründeten Theatergruppe, steht am Ende für ein Versprechen auf ein anderes, vollständigeres Leben. In beide Kapitel, die jeweils aus einer auktorialen Erzählhaltung geschrieben sind, ist eingebettet die Ich-Erzählung der jungen Marei. Sie ist zwischen die Selbstverwirklichungs-Gleise ihrer freiheitsliebenden Eltern geraten und seufzt verständlicherweise: "Warum konnte ich nicht einfach ganz normale Eltern haben, so wie andere Leute auch?" Sprengsätze sind also ausreichend gelegt. Es gärt unter der Oberfläche des Althippies, der Erfolgsregisseurin und beider Tochter, die, wenn schon sonst nicht so viel, so doch sicher einen starken Unabhängigkeitsdrang von ihren Eltern mitbekommen hat. Gute Startrampe - nicht nur für ein Jugendbuch: So kann es nicht bleiben, so geht es nicht weiter. Und es ist die Mutter, Susanne Arnold, die den Startschuß abfeuert mit dem Kurzbrief, den ihr weit entfernter Mann eines Tages erhält: "Lieber Burkhard, mir reicht's. Ich kann nicht mehr und ich will auch nicht mehr. Marei ist schließlich auch deine Tochter. Also kümmer dich gefälligst auch mal um sie. Susanne. PS: Ich erwarte euch am 20.6. in Bologna. Dann können wir reden." Die Frau ist, wie wir wissen, Regisseurin, und eine erfolgreiche dazu. Burkhard gehorcht den Regieanweisungen und klaubt kurz entschlossen seine überraschte Tochter in Hildesheim auf, das "road movie", die Reise beginnt. Alain de Botton sagt in seinem schönen Buch "Kunst des Reisens": "Wenn das Streben nach Glück unser Leben beherrscht, erschließen uns vielleicht nur wenige unserer Handlungen soviel über die Dynamik dieser Suche - mit all ihrer Inbrunst und ihren Paradoxien - wie die Reisen, die wir unternehmen." Keine Angst, meine Damen und Herren, ich werde nun nicht den ganzen Roman von Hänel und Gerold nacherzählen. Haben wir doch überzeugende Beweise dafür vorliegen, dass mindestens die Angehörigen der Jury ihn gelesen haben. Und den anderen hier Anwesenden möchte ich nicht die Lektüre ersetzen. Was ich aber gerne versuchen möchte, das ist, hier aus dem Buch heraus ein kleines Netz zu spinnen in dem Spannungsfeld zwischen Festhalten und Loslassen, Heimat und Wanderschaft, Alt und Jung, Traum und Realität. Zunächst aufgehängt am schönen Begriff des Generationenkonflikts. Zehn Jahre haben sie sich nicht einmal gesehen, Marei und ihr Vater Burkhard, der nun auf einmal, angekündigt vom Border Collie Poodle, in der Tür steht. Schon allein das Erscheinungsbild dieses Mannes befremdet das Mädchen mindestens ebenso, wie Friedrich Gerstäcker manchen Stadtbewohner in Louisiana verschreckt haben muss, wenn er gerade von einem Streifzug aus der Wildnis kam. Sowas kennt Marei nur aus alten Filmen. Wie vor hundert Jahren! Wie die Autoren in den Kapiteln, die alle ‚Unterwegs' heißen, die gemeinsame Autofahrt dieses Vater/Tochter-Gespanns schildern, das ist schon aufregend. Die beiden müssen sich ja nun miteinander arrangieren. Das ist schon schwer genug, wenn man Vater und Tochter ist, noch schwerer, wenn man sich als solche so gut wie gar nicht kennt. Sei es die Raucherei des Vaters, sein Musikgeschmack, seine chaotische Zeiteinteilung, die Art, wie er sich manchmal in der Öffentlichkeit aufführt..., all das nervt sie, oder es ist höchst peinlich. Umgekehrt kann es Burkhard gar nicht ausstehen, wenn ihn jemand drängt. Oder kann sich nur schwer daran gewöhnen, seine einsamen Entschlüsse nun plötzlich jemand mitteilen zu müssen, sie vielleicht gar vorher gemeinsam zu besprechen. Einen großen Stein im Brett allerdings hat er von Anfang an: Er behandelt seine Tochter wie eine Erwachsene, er nimmt ernst, was sie sagt. Das ist schön geschildert aus der Sicht der Ich-Erzählerin, und gibt mir als erwachsenem Leser das Gefühl: Da schmeißen sich die Autoren nicht einfach so an ein jugendliches Publikum ran, indem alles, was der alte Spinner mit den zu langen Haaren sagt und macht, bescheuert sein muß. Es ist ein ständiges Aneinander-Abarbeiten, was da - mit einem guten Schuß Humor und Ironie getränkt - liebevoll beschrieben wird. Und was wird da nicht alles vom Vater in die Waagschale geworfen: die altlinke Vergangenheit (Klar, in Bologna braucht man keinen Fahrschein im Bus, hat die kommunistische Stadtregierung doch abgeschafft!), die musikalischen Helden, die Zivilcourage, die Träume. Und immer, wenn es dann gerade soweit ist, dass Marei von dem einen oder anderen ein wenig beeindruckt ist, wird ein sich gerade aufbauendes Vater-Ideal auch schon wieder in Frage gestellt. Am spannendsten vielleicht, als Marei herausfindet, dass ihr Vater, der als Bühnenbildner aus dem konventionellen Theaterbetrieb ausgestiegen ist, des Geldes wegen für die Kopenhagener Oper kitschige Ausstattungen entwirft. "Und jetzt sagst du, es wäre dir völlig egal, was du machst, Hauptsache, du kriegst dein Geld!" "Das stimmt nicht ganz so, aber okay, jetzt hörst du mir mal zu: Niemand ist so gradlinig, wie du das gerne hättest. Oder glaubst du wirklich, dass jemand immer nur genau das machen könnte, was er für absolut richtig hält? Glaubst du, dass das wirklich geht ? Nein; meine Liebe, da machst du es dir aber verdammt einfach!" "Ach ja, mach ich das? (...) Ich finde, du redest nichts als Schwachsinn! (...) Du laberst die ganze Zeit nur irgendwelches Zeug, und in Wirklichkeit..." "Mache ich genau das, was alle anderen auch machen, das wolltest du doch sagen, richtig?" Eine harte Lektion - für beide Beteiligten. Dass die Widersprüche unaufgelöst nebeneinander stehenbleiben dürfen, dass keine Soße drübergekippt wird, ist ein großes Verdienst der Autoren und zeugt für wachen Realitätssinn. Wie sie es dennoch schaffen, diese Situation in gemeinsamem Gelächter enden zu lassen, will ich hier nicht verraten. Der manchmal etwas vollmundige Zivilcouragen-Anspruch des Vaters wird genauso angepiekst und läßt kein idealisiertes Heldenbild entstehen. Die Auseinandersetzung mit der Mutter, die ja zunächst nicht in persona vorhanden ist, wird auf einer anderen Ebene geführt. Sicher, Marei hat sich ein Bild von ihr gemacht: "Meine Mutter, die immer genau das macht, was sie will. Und die irgendwie alles organisiert kriegt. Zumindest solange es nichts mit ihrer eigenen Tochter zu tun hat." Dahinter steckt Wut und Enttäuschung. Und die können sich nur langsam auflösen, je mehr Marei von den Träumen ihrer Mutter erfährt. Das ist der Sinn der Aufgabe, die Susanne Arnold ihrem Mann und ihrer Tochter gestellt hat. Und jetzt muss ich ein wenig persönlich werden: Liebe Ulrike, lieber Wolfram, wenn ihr mir irgendwann einmal erzählt hättet, dass ihr ein Buch zu schreiben vorhabt, in dem unter anderen das Odin Theater, das Théâtre du Soleil eine Rolle spielen, ein Buch, das in Irland endet, ich hätte gegrinst und mir vorstellen können, dass es ein Buch über viele eurer Träume sein würde. An ein Jugendbuch hätte ich als letztes gedacht. Und doch braucht es einen gar nicht zu wundern: Wolfram, du antwortest ja auf eurer web-site und auch sonst auf die Frage: "Was ich für wichtig halte: viel zu sehen und sich viel zu merken, an seine eigenen Träume und Ideen zu glauben, sich einzumischen, wenn irgendwo irgendjemand ungerecht behandelt wird." Und Ulrike, du hast zusammen mit Wolfram 1992 ein Theatermodell entworfen, das hieß IFFLANDS, und da gibt es ein Grundsatzpapier, das ich auch noch habe, und dort drin ist die Aufgabe des Theaters so definiert: "Gegenpol zu sein zu gesellschaftsbedingter Sinnentleerung und multimedialer Vermassung, frei von Abonnementsstrukturen und politisch taktierender Rücksichtnahme eindeutig Stellung zu beziehen, Gegenwelten aufzuzeigen, Sand ins Getriebe glatter Konsumierbarkeit zu streuen - Theater muß mit den Mitteln der Theaterkunst zur Entwicklung einer eigenen, integren Individualität ermutigen und für die Über-nahme sozialer und politischer Verantwortung eintreten. Und: Theater muß Frei-räume schaffen zur Entwicklung der Phantasie als Gegenwelt zu einer Überflutung mit Erlebnisqualitäten aus zweiter und dritter Hand. Das bedeutet, festgefahrene Strukturen aufzubrechen und eine grundlegend neue (nicht nur inhaltliche) Konzeption zu formulieren, die sich einläßt auf veränderte Lebens- und Arbeitsbedingungen ..." Das könnte so oder ähnlich von eurer Romanfigur Susanne Arnold verfaßt sein. Susanne, die Regisseurin, die mit ihrem absoluten Wahrheitsanspruch an das Theater im etablierten Betrieb zu zerbrechen droht. Sicher, sie hat ein paarmal die richtigen Leute getroffen, aber mit den meisten und mit dem Betrieb hat sie sich immer angelegt. Aus dem Ungenügen der gelebten Realität wachsen ihre Träume, die sind in ihren Inszenierungen zu entdecken. Und ihr größter Traum ist schlußendlich die Gründung einer eigenen Theatertruppe, ist: "Kontinuität (...) Mit den gleichen Leuten über einen langen Zeitraum an etwas arbeiten, das für alle eine Bedeutung hat." |
In eurem Theatermodell hieß die Eröffnungsspielzeit "UTOPIE", war als erste Produktion vorgesehen ein Stück von Wolfram:
"Die Mönche (Paradise Regain'd) The sixth century voyage of St.Brendan: Irish monks going to America in an open leather boat, long before Columbus... (...) They'll need a miracle, but sure they'll make it." Das ist genau das Stück, an dem Susanne Arnold mit der neugegründeten Gruppe arbeitet. Aber nicht nur das hat sie in Gang gesetzt. Sondern auch das Ungenügen gespürt, das sich aus ihrer Herumzieherei ergab: "Sie hatte ihre eigene Theatergruppe. Und sie war auf dem besten Weg, sich ein Zuhause aufzubauen. Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit. So kam es ihr zumindest vor. Und vor ein paar Jahren noch wäre das auch unvorstellbar für sie gewesen. Sie hätte jeden ausgelacht, der behauptet hätte, sie, für die es nie etwas anderes hatte geben dürfen als das Theater, würde irgendwann einmal davon träumen, sesshaft zu werden oder ganz und gar mit Mann und Kind zusammen zu leben." Was ist geschehen? Die Träume der Autoren leben weiter in den Träumen der Charaktere des Romans. Und sie sind erweitert worden für die jugendliche Hauptfigur. Für Marei, die aber diesmal nicht einfach so vor vollendete Tatsachen gestellt werden darf, sondern die durch die Reise und die Theatererlebnisse mal heftig, mal sanft, mal klar einsehbar, mal sehr verrätselt damit vertraut gemacht werden soll. Das klingt sehr parallel zu eurer eigenen Liebesgeschichte mit dem Land Irland: "Ganz langsam und unmerklich fast änderte sich unser Bild von Irland, ganz langsam fingen wir an zu ‚verstehen', wenn es auch noch einiger Jahre und vieler Fahrten mehr bedurfte, bis wir dann tatsächlich jede hannoversche Minute darauf fieberten, zurückzukehren zu diesem ‚gottverdammten Stückchen Erde' (Synge)." Und schließlich finde ich noch einen weiteren Traum, den ihr zu leben versteht, in dem Roman: Das sind die weltweiten Freundschaften, das Netzwerk aus mehr oder weniger vertrauten Menschen, zu denen man kommen kann, mit denen man was anfangen kann. Marei ist weit bis in die Hälfte der Reise sehr genervt davon, dass ihr Vater quasi ‚Gott und die Welt' kennt, wie man so sagt. Ist ja auch verständlich, denn es sind nicht ihre Freunde, bei denen dann Rast gemacht wird. Aber nach und nach werden einige dieser Menschen ihr vertrauter, gibt es einige, von denen sie fasziniert ist. Nicht alle. Und das ist auch gut so. Aber was für ein Angebot für ein Jugendbuch: Das, was den Autoren selbst dicht am Herzen liegt, wird ausgebreitet, auch wenn sich die Charaktere, sprich Vater und Mutter, die das ausbreiten, anbieten, damit angreifbar und verletzlich machen. Aber anders geht es nunmal nicht. Wenn es ehrlich sein soll. Und wenn es ehrlich sein soll, kann es auch keinen geraden Weg geben. Der Roman beschreibt die Reise, die dadurch diktiert wird, dass die Mutter immer wieder Hinweise auf eigene Inszenierungen und andere Theaterereignisse ausstreut. Das Strukturprinzip ist schnell begriffen. Aber wieviele verschlungene Wege tun sich auf. So wie in Bologna der Bus eben nicht mehr umsonst ist, so wenig ist die Mutter dort zu finden. Ihrer Dario-Fo-Inszenierung ist jedoch der Hinweis zu entnehmen: "... die Frauen müssen die Sache selbst in die Hand nehmen, sonst... - Sonst würde sich überhaupt nichts ändern " Erwartet man jetzt, dass sich in Wien wieder eine Inszenierung der Mutter als Hinweis zeige, wird man gleich enttäuscht. Diesmal ist es ein Bühnenbild für ein Cechov-Stück, das die versteckte Botschaft enthält: "Die drei Schwestern, die auch alle ihren Traum haben, aber eben nichts dafür tun, sondern die ganze Zeit drauf warten, dass jemand anders es für sie tut, und damit passiert - überhaupt nichts. Null. Sie versauern." In Weimar ist Susanne erst recht nicht zu finden, aber diesmal ist es ein Straßentheater, das mit Don Quichotte ein Beispiel dafür gibt, wie jemand seinen Traum nicht aufgibt und für seine Idee kämpft - kurz bevor der Vater sich mit frechem Mundwerk gerade noch so einer handgreiflichen Auseinandersetzung mit einem Neonazi entziehen kann. In Weimar, im Hotelzimmer ist es dann auch, dass sich Vater und Tochter allmählich klar darüber werden, was die Mutter da mit ihnen treibt. Gleichzeitig stellen sie aber fest, dass sie beide zusammen auch Erlebnisse gehabt haben, auf die Susanne sie gar nicht gestoßen hat, die aber dennoch genau in die Vorstellung passen, dass man seine Träume leben muß. Da wird's ein wenig ungeheuer. Auch wenn es dann in Hamburg mit einer Aufführung von Brechts "Galileo Galilei" in der Regie von Susanne Arnold noch einmal sehr eindeutig wird, verlaufen die nächsten Wege durchaus weniger geplant. Ein Abstecher zum Odin-Theater erweist sich als faszinierend, doch der Schauspieler, der Marei so gut gefällt, der steigt gerade dort aus. Andere ausgestiegene Freunde des Vaters sind versackt, sind stehengeblieben, auch das eine Erfahrung. Die Peer-Gynt-Aufführung in Stockholm, die sie sich ansehen sollten, ist gar nicht von Susanne, sie fahren auch gar nicht hin. Stattdessen durchlebt Marei eine kleine Liebesgeschichte, die natürlich auch zum Konflikt mit dem Vater führt, und von Peer Gynt bleibt ein Bühnenbildmodell, das ihr Burkhard zum Geburtstag baut. Peer Gynt, der Aussteiger, von dem die folgenden Sätze stammen könnten: "Weißte was , ich sag dir eins, hier läuft doch nichts, Totentanz, aber: irgendwo anders, da is vielleicht der Bär los, weißte, un hier kriegste überhaupt nichts mit davon, das isses, also: abhauen, weg hier, verstehste?!" Das Zitat ist aber nicht von Ibsen, sondern eine Stelle aus einem unveröffentlichten frühen Stück von Wolfram Hänel, das ich beinahe einmal inszeniert hätte. Das Stück sollte den Titel tragen: ‚Irgendwo woanders hin'! Wenn ich doch eins könnte mit diesem assoziativen Reihungen, in die ich mich hoffentlich noch einigermaßen nachvollziehbar verstrickt habe: Ihnen, meine Damen und Herren zu vermitteln, worin für mich das Haupt-Faszinosum an diesem Buch besteht: Dass sich da Träume beharrlich über Jahre hinaus gehalten haben. Aber nicht auf geraden Wegen. Sie haben sich manchmal nicht so erfüllt, wie zuerst gehofft, sie verändern sich auch mit der Zeit, es kommen andere Aspekte dazu, manches wird nicht mehr träumenswert, aber der Roman ist durchsetzt von solchen Herzblut-Angelegenheiten. Und: Bei dieser ‚pursuit of happiness' legen Wolfram Hänel und Ulrike Gerold uns, den Lesern, ihr Wertvollstes auf den Tisch, als Angebot. Durchaus nicht unhinterfragt durch die jugendliche Protagonistin, aber eben auch nicht bis ins Unverbindliche relativiert. Erfahrung ist ja genau das, was sich nicht an die nächste Generation weitergeben läßt. Erfahrung muß eben jeder selbst machen. Und dennoch liest sich ausgerechnet die Tochter aus der Galilei-Aufführung etwas heraus, das mit ihr zu tun hat: "‚Das mit dem Jungen (...), dem Galilei alles beigebracht hat, was er wusste, und der dann...' ‚Moment!' Mein Vater guckt mich reichlich irritiert an. ‚Du willst doch nicht etwa behaupten, dass ... also Susanne und ich, wir sind Galilei? Und du ... trägst dann unsere Gedanken in die Welt?' ‚Könnte doch sein', sage ich und bin mir auf einmal gar nicht mehr so sicher. Doch, bin ich. ‚Also das halte ich aber für deutlich überinterpretiert', erklärt mein Vater." Ich halte es für eine nachgerade Brecht'sche List der Autoren, dass ausgerechnet die Tochter hier an die Weitergabe der Staffette glaubt, während der Vater eher skeptisch ist. Ob's denn wirklich in der Realität so aufgeht, das Verhältnis zwischen den Generationen, das sei dahingestellt. Aber die Idee davon, den Traum, den wird man wohl beschreiben dürfen, nein sogar müssen, wenn man's kann. So wie ihr. Nämlich nicht platt und geradewegs. Denn gerade Wege haben sie alle nicht zu gehen, bis sich Vater, Mutter, Tochter tatsächlich in Irland wiedersehen und vorsichtig einander annähern, vielleicht dort gemeinsam einen Neuanfang wagen. Zur Idee des Irgendwo woanders ist die Idee der Heimat gekommen. Peer Gynt, erklärt Burkhard: "... war überall in der Welt, aber das Einzige, was er eigentlich will, ist - wieder nach Hause!" (Wir finden etwas Ähnliches in der Person Friedrich Gerstäckers, den der Herausgeber Thomas Ostwald als einen "Weltreisenden mit Heimweh" bezeichnet.) Eine Utopie. Ein Traum. Erfülltes, selbstbestimmtes Leben. Familie und Berufung unter einem Hut? Es bleiben ehrlicherweise viele Fragen offen. An eine wichtige Erkenntnis jedoch tastet sich Marei am Ende heran: "Dass Eltern auch nicht immer wissen, was sie tun. Also, dass sie manchmal auch einfach nur ... rumprobieren und dass deshalb dann das, was dabei rauskommt, auch nicht unbedingt besonders sinnvoll ist. Vielleicht ist es überhaupt viel wichtiger, dass sie wenigstens irgendwann merken, dass sie nichts auf die Reihe gekriegt haben. Und sich dann wirklich bemühen und nochmal von vorne anfangen." Viel "vielleicht", viel Tastendes - und damit doch in seiner Unsicherheit ehrlicher als jedes Patentrezept. Was mehr könnte man für einen heutigen Entwicklungsroman denn fordern? Es ist kein sicherer Hafen, in den die Geschehnisse münden. Die Theatergruppe siedelt sich zwar in Stonehaven an, hat sich aber wortspielerisch den Namen Stoneheaven gegeben, da ist beides drin. Die Steine auf dem Weg und der Himmel. Wir haben nur ein Recht auf das Streben nach Glück. Dabei ist das Streben, das Verfolgen das Wichtige. Das scheint Marei - und man möchte den Roman darum fast mit der Titel Paraphrase "Wilma Meisters theatralische Sendung" versehen - sehr wohl verstanden zu haben, wenn sie am Ende der Mutter, die sich mit dem neuen Stück plagt, den folgenden Regievorschlag macht: "Warum machst du es nicht genauso wie gestern? (Das war auf der Probe. M.R.) Also du versuchst gar nicht erst, so zu tun, als wäre das Stück fertig, sondern genau umgekehrt, ihr hört zum Beispiel mitten in der Szene auf und diskutiert darüber. Wirklich so, wie ihr es gestern auch gemacht habt. Was das eigentlich mit euch zu tun hat und so. Und dann fangt ihr nochmal an und versucht irgendetwas Neues! Ich fände das jedenfalls total spannend." Welche Abenteuerlust! Und damit wären wir wieder bei dem, in dessen Namen der heutige Preis vergeben wurde: Friedrich Gerstäcker schreibt beim Aufbruch nach Amerika: "Schon befürchtete ich wegen des anhaltenden ruhigen Wetters keinen Sturm zu erleben.... (...) Ich fühlte mich wohl bei diesem Aufruhr der Elemente, und über Bord gelehnt, sah ich dem Toben und Stürmen der rastlosen Wogen stundenlang zu." Ich habe viel vom Streben nach Glück gesprochen. Und nun, da wir auf das wie auch immer offene Ende des Romans schauen, sehen wir, dass die drei Figuren sich redlich gemüht haben, das Glück zu finden. Welches ja nie als etwas Statisches gefaßt werden kann. Was sich aber dabei verändert hat, das sind sie selbst, die Menschen. Und obwohl es lang nicht so ausgesehen hat, muß man nun doch zugeben, dass sie nicht nur einen wunderbaren Hund bei sich, sondern auch eine Menge Schwein mit sich gehabt haben. Angesichts dieser Erkenntnis hat es doch einen gewissen Charme, wenn da, kurz vor dem Ende, der Druckfehlerteufel in einem ansonsten sehr sorgfältig redigierten Buch aus einem ‚Scheinwerfer' einen ‚Schweinwerfer' macht. Verzeihen Sie mir bitte die kleine Albernheit. Viel wäre noch über dies bemerkenswerte Buch und seine Autoren zu sagen, unerwähnt bleiben die souveräne Sprachbehandlung, der Witz, der so oft auf kleinste Details angewendet wird. Und unerwähnt bleibt, weil ich sie viel zu wenig kenne, Hilkje Hänel, die, nebenbei bemerkt, für ihre Autoren-Eltern eine wunderbare web-site betreut. Ihren Anteil an Euren Träumen und deren Veränderungen, ihren Anteil am Roman, den, liebe Ulrike, lieber Wolfram, werdet ihr hoffentlich selbst am besten einzuschätzen und zu würdigen wissen. Ich beglückwünsche euch herzlich zu diesem Buch, ich möchte auch der Jury sowie den Preisgebern zu ihrer Wahl gratulieren. Abschließend bleibt mir nur noch der Wunsch, dass dieses Buch, in dem sich ein Vater früh abgesetzt hat, in dem eine Tochter genug damit zu tun hat, sich von ihren Eltern abzusetzen, in dem auch ein idealisiertes Elternbild abgesetzt wird und schließlich der Vater selbst auch noch die Zigaretten absetzt..., dass sich dieses Buch zum Wohle vieler Leserinnen und Leser auch glänzend in den Buchhandlungen absetzt. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. Manfred Roth, Frankfurt am Main* |
*Manfred Roth, geboren 1950 in Frankfurt am Main, studierte Anglistik und Germanistik und arbeitete seit 1975 in verschiedenen Berufen an verschiedenen Theatern - als Autor, Regisseur und Darsteller, auch als Bühnenbildner. Nach einer Professur für Szenischen Unterricht in Detmold lebt Roth heute wieder als Regisseur und Theatermacher in Frankfurt.
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Preisverleihung im Rathaus Braunschweig, 2003