PS. "Wir haben Fehler gemacht ..."
Rede zum Abitur
von Hilkje Hänel und Steffi Jung
Wir haben Fehler gemacht, wir legen ein volles Geständnis ab:
Wir sind nachgiebig gewesen,
wir sind anpassungsfähig gewesen,
wir sind nicht radikal gewesen.
Wir haben uns für die Abitur-Zulassung beworben,
wir haben die Abitur-Zulassungsbestimmungen gelesen,
wir haben uns den Abitur-Zulassungsbestimmungen unterworfen.
Wir haben Formulare ausgefüllt, die auszufüllen eine Zumutung war.
Wir haben für unsere Bewerbung Fächer gewählt, die nicht unsere Fächer waren.
Wir haben unsere Zulassung erhalten,
wir haben unseren besten Anzug angezogen,
wir sind zur Entlassungsfeier gegangen.
Wir haben uns hingesetzt,
wir haben gewartet,
wir wären am liebsten gleich wieder gegangen.
Wir haben uns zur Feier des Augenblicks von unseren Plätzen erhoben,
obwohl uns die Feierlichkeit des Augenblicks nicht bewusst geworden ist.
Wir sind, als wir unsere Lehrer wieder gesehen haben,
nicht in ein nicht enden wollendes Gelächter ausgebrochen.
Wir haben uns wieder hingesetzt,
als wir uns wieder hinsetzen durften.
Wir haben die Ansprachen gehört.
Wir haben die Worte der Redner in uns aufgenommen,
wir haben ab und zu die Augen geschlossen,
wir haben uns jedes Mal entschließen müssen,
bevor wir gehustet haben,
wir sind nicht weiter aufgefallen,
wir sind liebe Schülerinnen und Schüler gewesen.
Wir haben uns des Vorzugs, ein akademischer Bürger zu sein, versichern lassen,
bevor wir das als einen Vorzug empfanden.
Wir haben unsere Schule "Eigenverantwortliche Schule" genannt,
obwohl wir uns da gar nicht so sicher waren.
Wir haben eine Gemeinschaft von Lernenden und Lehrenden gebildet,
obwohl wir weit von einer solchen Gemeinschaft entfernt waren.
Wir sind in den Unterricht gegangen,
wir haben unsere Pflichtfächer belegt,
wir sind nicht in die Antifa eingetreten.
Wir haben uns ein Jahr lang mit der Frage beschäftigt,
warum es damals den Deutschen Zollverein gab,
wir haben uns mit dem Erzähler der auktorialen Erzählung befasst,
der mehr wusste als der Autor,
und über einen Deutschen des 19. Jahrhunderts gearbeitet,
der seinerseits über einen Römer des 2. Jahrhunderts gearbeitet hatte.
Wir haben mit dieser Arbeit keinen Erfolg gehabt,
denn wir hatten die neuesten Entwicklungen
auf dem Gebiet der Deutschen des 19. Jahrhunderts,
die über einen Römer des 2. Jahrhunderts gearbeitet haben,
nicht gebührend berücksichtigt.
Wir sind deprimiert gewesen,
wir haben uns zu Recht kritisiert gefühlt,
wir haben es das nächste Mal besser gemacht.
Wir haben Facharbeiten gemacht, die zu machen reine Zeitverschwendung war.
Wir haben zur Strafe Stunden protokolliert,
die nicht zu protokollieren, sondern nur zu kritisieren waren.
Wir haben Tatsachen auswendig gelernt, aus denen nicht das mindeste zu lernen war.
Wir haben Prüfungen vorbereitet, die nur der Prüfung unseres Gehorsams dienten.
Wir sind nervös geworden,
wir sind unlustig geworden,
wir sind immer schwieriger geworden,
wir litten an mangelnder Konzentration,
wir konnten nicht mehr einschlafen,
wir konnten nicht mehr beischlafen,
wir haben uns niemals darüber ausgesprochen.
Wir haben uns sagen lassen,
wir müssten erst mal mit uns selber fertig werden.
Wir haben es dahin gebracht,
jederzeit mindestens vier Dichter der Goethezeit nennen zu können.
Wir haben den Don Carlos im Schlaf gekonnt.
Wir wussten, wer die Revolutionäre der Französischen Revolution waren.
Aber wir haben uns nie gefragt, wofür es zu revolutionieren galt.
Wir haben zuviel Respekt vor dem Wissen unserer Lehrer gehabt
und zu wenig Neugier nach ihrer Meinung.
Wir sind so verdammt immanent gewesen.
Als wir den 2. Weltkrieg durchgenommen haben,
da haben wir den 2. Weltkrieg durchgenommen.
Als Deutschland verzweifelt war, da waren auch wir verzweifelt -
aber wir haben uns nie gefragt, warum es verzweifelt war.
Als es sich auf seinen Tod vorbereitete,
da haben auch wir uns auf seinen Tod vorbereitet.
Als sich die Deutschen die Augen schließen ließen,
da haben auch wir unsere Augen geschlossen.
Und als sich die Alliierten mit Deutschland versöhnten,
da waren auch wir versöhnt.
Wir haben die Gesetze der unregelmäßigen Verben gelernt,
während andere fragwürdige Schulgesetze verabschiedeten.
Wir haben uns zur mündlichen Prüfung gratulieren lassen,
während andere Bush zu seiner Terrorbekämpfung gratulierten.
Wir haben an die Freiheit der Wissenschaft geglaubt,
wie andere an die Freiheit der 3. Welt glauben.
Wir haben uns ein Facharbeitsthema geben lassen,
wir haben unsere Facharbeit gemacht,
wir haben unseren Eltern damit eine große Freude gemacht.
Wir haben unserem Lehrer für wertvolle Anregungen gedankt,
auch wenn diese Anregungen nicht wertvoll waren.
Wir sind sachlich gewesen,
wir sind gehorsam gewesen,
wir sind wirklich unerträglich gewesen.
Diejenigen, die mit "Herr" anzureden waren,
haben wir mit "Herr" angeredet.
Diejenigen, die mit "Herr Studienrat" anzureden waren,
haben wir mit "Herr Studienrat" angeredet.
Diejenigen, die mit "Herr Oberstudienrat" anzureden waren,
haben wir mit "Herr Oberstudienrat" angeredet.
Diejenigen, die mit "Herr Professor" anzureden gewesen wären,
hätten wir mit "Herr Professor" angeredet.
Wir wollen es nie wieder tun.
Wir haben uns durch schlechte Noten klein kriegen lassen,
wir haben uns durch gute Noten wieder aufmöbeln lassen,
wir haben es mit uns machen lassen.
Wenn wir bei unserem Lehrer im Unterricht waren,
dann haben wir ihm nicht auf die Finger gesehen,
wenn wir uns von ihm prüfen ließen,
dann haben wir ihm nicht ins Gesicht gesehen,
wenn wir im Klo neben ihm standen,
dann haben wir ihm nicht auf den Schwanz gesehen.
Wir wollen es das nächste Mal tun.
Wir haben unser Schullaufbahn fortgesetzt,
wir haben die erforderliche Kursanzahl belegt,
wir haben die in uns gesetzten Erwartungen nicht enttäuscht.
Wir waren nicht glücklich dabei,
wir hatten ein schlechtes Gewissen dabei, aber wir haben ja nichts geändert,
wir waren ja von unserer Schule lediglich enttäuscht.
Haben wir zum Beispiel jemals gesagt,
dass wir den Kultusminister für ein ... halten?
Das haben wir nicht getan.
Wie also konnten wir erwarten,
durch diesen Mann nicht länger auf Holzwege geführt zu werden?
Haben wir in unseren Prüfungen und in unserem Unterricht jemals etwas gesagt,
das unserem Ärger nahe kam?
Das haben wir nicht getan.
Wir haben unsere Lehrer im Stich gelassen,
wir haben unsere Lehrer nicht mitgerissen,
nach nach zwanzig Halbjahren hatten unsere Lehrer noch immer nichts von uns gelernt.
So haben wir es zu Verwechslungen kommen lassen,
zu denen wir es nicht hätten kommen lassen dürfen.
Wie haben es dahin kommen lassen, dass unsere Lehrer,
statt gemeinsam mit uns den US-Präsidenten Bush als Kriegsverbrecher zu denunzieren,
uns deswegen als Schwänzer denunzierten.
Wir haben es dahin kommen lassen, dass sie uns anlässlich einer Projektwoche,
die sich ausdrücklich gegen die unerträgliche Ruhe und Ordnung an dieser Schule richtete,
mit einem Hinweis auf die Ruhe und Ordnung zu Ruhe und Ordnung zu bringen versuchten.
Wir haben uns da offenbar nicht klar ausgedrückt,
wir wollen uns jetzt klar ausdrücken.
Es geht tatsächlich um die Abschaffung von Ruhe und Ordnung,
es geht um unbürokratisches Verhalten,
es geht darum, endlich nicht mehr sachlich zu sein.
Wir haben in aller Sachlichkeit über den Krieg im Irak informiert,
obwohl wir erlebt haben,
dass wir die unvorstellbarsten Einzelheiten
über die amerikanische Politik im Irak zitieren können,
ohne dass die Fantasie unserer Nachbarn in Gang gekommen wäre,
aber dass wir nur einen Rasen zu betreten zu brauchen,
dessen Betreten verboten ist,
um ehrliches, allgemeines und nachhaltiges Grauen zu erregen.
Wir haben ruhig und ordentlich eine Schulreform gefordert,
obwohl wir herausgefunden haben,
dass wir gegen die Schulverfassung reden können,
soviel und solange wir wollen,
ohne dass sich ein Aktendeckel hebt,
aber dass wir nur gegen die ordnungsamtlichen Bestimmungen zu verstoßen brauchen,
um den ganzen Schulaufbau ins Wanken zu bringen.
Da sind wir auf den Gedanken gekommen,
dass wir erst den Rasen zerstören müssen,
bevor wir die Lügen über den Irak zerstören können,
dass wir erst die Hausordnung brechen müssen,
bevor wir die Schulordnung brechen können.
Da haben wir den Einfall gehabt,
dass das Betretungsverbot des Rasens
und das Veranstaltungsverbot des Ordnungsamtes genau die Verbote sind,
mit denen die Politiker dafür sorgen,
dass die Empörung über die Verbrechen im Irak
wie über die vergreiste Schulverfassung
schön ruhig und wirkungslos bleibt.
Da haben wir es endlich gefressen,
dass wir gegen den Bürokratenwahn,
gegen Prüfungen, in denen man nur das Fürchten,
gegen Unterrichte, in denen man nur das Nachschlagen lernt,
gegen Ausbildungspläne, die uns systematisch verbilden,
gegen Sachlichkeit, die nichts weiter als Müdigkeit bedeutet,
gegen die Verketzerung der Emotion,
aus der die Regierenden das Recht ableiten,
über die Folterungen im Irak mit der gleichen Ruhe wie über das Wetter reden zu dürfen,
gegen Ruhe und Ordnung,
in der die Unterdrücker sich ausruhen,
gegen verlogene Rationalität und wohlweisliche Gefühlsarmut,
dass wir gegen den ganzen alten Plunder am sachlichsten argumentieren,
wenn wir aufhören zu argumentieren und diese Schule endlich verlassen.
Wir haben verallgemeinert,
wir haben alle und alles über einen Haufen geworfen
und wir waren alles andere als sachlich -
wir wollen deswegen in dieser Verallgemeinerung auch nicht mehr danken,
obwohl wir einigen gerne danken würden,
aber genauso wissen wir, dass diejenigen, denen wir danken wollen,
nach dieser Rede wissen, dass wir Ihnen danken würden, wenn wir es nur könnten.
Allen anderen wünschen wir hiermit resigniertes Glück,
auf dass sich nie etwas ändern wird!
(unter Verwendung von Motiven einer Rede von Peter Schneider, FU Berlin 1967)
Wir sind nachgiebig gewesen,
wir sind anpassungsfähig gewesen,
wir sind nicht radikal gewesen.
Wir haben uns für die Abitur-Zulassung beworben,
wir haben die Abitur-Zulassungsbestimmungen gelesen,
wir haben uns den Abitur-Zulassungsbestimmungen unterworfen.
Wir haben Formulare ausgefüllt, die auszufüllen eine Zumutung war.
Wir haben für unsere Bewerbung Fächer gewählt, die nicht unsere Fächer waren.
Wir haben unsere Zulassung erhalten,
wir haben unseren besten Anzug angezogen,
wir sind zur Entlassungsfeier gegangen.
Wir haben uns hingesetzt,
wir haben gewartet,
wir wären am liebsten gleich wieder gegangen.
Wir haben uns zur Feier des Augenblicks von unseren Plätzen erhoben,
obwohl uns die Feierlichkeit des Augenblicks nicht bewusst geworden ist.
Wir sind, als wir unsere Lehrer wieder gesehen haben,
nicht in ein nicht enden wollendes Gelächter ausgebrochen.
Wir haben uns wieder hingesetzt,
als wir uns wieder hinsetzen durften.
Wir haben die Ansprachen gehört.
Wir haben die Worte der Redner in uns aufgenommen,
wir haben ab und zu die Augen geschlossen,
wir haben uns jedes Mal entschließen müssen,
bevor wir gehustet haben,
wir sind nicht weiter aufgefallen,
wir sind liebe Schülerinnen und Schüler gewesen.
Wir haben uns des Vorzugs, ein akademischer Bürger zu sein, versichern lassen,
bevor wir das als einen Vorzug empfanden.
Wir haben unsere Schule "Eigenverantwortliche Schule" genannt,
obwohl wir uns da gar nicht so sicher waren.
Wir haben eine Gemeinschaft von Lernenden und Lehrenden gebildet,
obwohl wir weit von einer solchen Gemeinschaft entfernt waren.
Wir sind in den Unterricht gegangen,
wir haben unsere Pflichtfächer belegt,
wir sind nicht in die Antifa eingetreten.
Wir haben uns ein Jahr lang mit der Frage beschäftigt,
warum es damals den Deutschen Zollverein gab,
wir haben uns mit dem Erzähler der auktorialen Erzählung befasst,
der mehr wusste als der Autor,
und über einen Deutschen des 19. Jahrhunderts gearbeitet,
der seinerseits über einen Römer des 2. Jahrhunderts gearbeitet hatte.
Wir haben mit dieser Arbeit keinen Erfolg gehabt,
denn wir hatten die neuesten Entwicklungen
auf dem Gebiet der Deutschen des 19. Jahrhunderts,
die über einen Römer des 2. Jahrhunderts gearbeitet haben,
nicht gebührend berücksichtigt.
Wir sind deprimiert gewesen,
wir haben uns zu Recht kritisiert gefühlt,
wir haben es das nächste Mal besser gemacht.
Wir haben Facharbeiten gemacht, die zu machen reine Zeitverschwendung war.
Wir haben zur Strafe Stunden protokolliert,
die nicht zu protokollieren, sondern nur zu kritisieren waren.
Wir haben Tatsachen auswendig gelernt, aus denen nicht das mindeste zu lernen war.
Wir haben Prüfungen vorbereitet, die nur der Prüfung unseres Gehorsams dienten.
Wir sind nervös geworden,
wir sind unlustig geworden,
wir sind immer schwieriger geworden,
wir litten an mangelnder Konzentration,
wir konnten nicht mehr einschlafen,
wir konnten nicht mehr beischlafen,
wir haben uns niemals darüber ausgesprochen.
Wir haben uns sagen lassen,
wir müssten erst mal mit uns selber fertig werden.
Wir haben es dahin gebracht,
jederzeit mindestens vier Dichter der Goethezeit nennen zu können.
Wir haben den Don Carlos im Schlaf gekonnt.
Wir wussten, wer die Revolutionäre der Französischen Revolution waren.
Aber wir haben uns nie gefragt, wofür es zu revolutionieren galt.
Wir haben zuviel Respekt vor dem Wissen unserer Lehrer gehabt
und zu wenig Neugier nach ihrer Meinung.
Wir sind so verdammt immanent gewesen.
Als wir den 2. Weltkrieg durchgenommen haben,
da haben wir den 2. Weltkrieg durchgenommen.
Als Deutschland verzweifelt war, da waren auch wir verzweifelt -
aber wir haben uns nie gefragt, warum es verzweifelt war.
Als es sich auf seinen Tod vorbereitete,
da haben auch wir uns auf seinen Tod vorbereitet.
Als sich die Deutschen die Augen schließen ließen,
da haben auch wir unsere Augen geschlossen.
Und als sich die Alliierten mit Deutschland versöhnten,
da waren auch wir versöhnt.
Wir haben die Gesetze der unregelmäßigen Verben gelernt,
während andere fragwürdige Schulgesetze verabschiedeten.
Wir haben uns zur mündlichen Prüfung gratulieren lassen,
während andere Bush zu seiner Terrorbekämpfung gratulierten.
Wir haben an die Freiheit der Wissenschaft geglaubt,
wie andere an die Freiheit der 3. Welt glauben.
Wir haben uns ein Facharbeitsthema geben lassen,
wir haben unsere Facharbeit gemacht,
wir haben unseren Eltern damit eine große Freude gemacht.
Wir haben unserem Lehrer für wertvolle Anregungen gedankt,
auch wenn diese Anregungen nicht wertvoll waren.
Wir sind sachlich gewesen,
wir sind gehorsam gewesen,
wir sind wirklich unerträglich gewesen.
Diejenigen, die mit "Herr" anzureden waren,
haben wir mit "Herr" angeredet.
Diejenigen, die mit "Herr Studienrat" anzureden waren,
haben wir mit "Herr Studienrat" angeredet.
Diejenigen, die mit "Herr Oberstudienrat" anzureden waren,
haben wir mit "Herr Oberstudienrat" angeredet.
Diejenigen, die mit "Herr Professor" anzureden gewesen wären,
hätten wir mit "Herr Professor" angeredet.
Wir wollen es nie wieder tun.
Wir haben uns durch schlechte Noten klein kriegen lassen,
wir haben uns durch gute Noten wieder aufmöbeln lassen,
wir haben es mit uns machen lassen.
Wenn wir bei unserem Lehrer im Unterricht waren,
dann haben wir ihm nicht auf die Finger gesehen,
wenn wir uns von ihm prüfen ließen,
dann haben wir ihm nicht ins Gesicht gesehen,
wenn wir im Klo neben ihm standen,
dann haben wir ihm nicht auf den Schwanz gesehen.
Wir wollen es das nächste Mal tun.
Wir haben unser Schullaufbahn fortgesetzt,
wir haben die erforderliche Kursanzahl belegt,
wir haben die in uns gesetzten Erwartungen nicht enttäuscht.
Wir waren nicht glücklich dabei,
wir hatten ein schlechtes Gewissen dabei, aber wir haben ja nichts geändert,
wir waren ja von unserer Schule lediglich enttäuscht.
Haben wir zum Beispiel jemals gesagt,
dass wir den Kultusminister für ein ... halten?
Das haben wir nicht getan.
Wie also konnten wir erwarten,
durch diesen Mann nicht länger auf Holzwege geführt zu werden?
Haben wir in unseren Prüfungen und in unserem Unterricht jemals etwas gesagt,
das unserem Ärger nahe kam?
Das haben wir nicht getan.
Wir haben unsere Lehrer im Stich gelassen,
wir haben unsere Lehrer nicht mitgerissen,
nach nach zwanzig Halbjahren hatten unsere Lehrer noch immer nichts von uns gelernt.
So haben wir es zu Verwechslungen kommen lassen,
zu denen wir es nicht hätten kommen lassen dürfen.
Wie haben es dahin kommen lassen, dass unsere Lehrer,
statt gemeinsam mit uns den US-Präsidenten Bush als Kriegsverbrecher zu denunzieren,
uns deswegen als Schwänzer denunzierten.
Wir haben es dahin kommen lassen, dass sie uns anlässlich einer Projektwoche,
die sich ausdrücklich gegen die unerträgliche Ruhe und Ordnung an dieser Schule richtete,
mit einem Hinweis auf die Ruhe und Ordnung zu Ruhe und Ordnung zu bringen versuchten.
Wir haben uns da offenbar nicht klar ausgedrückt,
wir wollen uns jetzt klar ausdrücken.
Es geht tatsächlich um die Abschaffung von Ruhe und Ordnung,
es geht um unbürokratisches Verhalten,
es geht darum, endlich nicht mehr sachlich zu sein.
Wir haben in aller Sachlichkeit über den Krieg im Irak informiert,
obwohl wir erlebt haben,
dass wir die unvorstellbarsten Einzelheiten
über die amerikanische Politik im Irak zitieren können,
ohne dass die Fantasie unserer Nachbarn in Gang gekommen wäre,
aber dass wir nur einen Rasen zu betreten zu brauchen,
dessen Betreten verboten ist,
um ehrliches, allgemeines und nachhaltiges Grauen zu erregen.
Wir haben ruhig und ordentlich eine Schulreform gefordert,
obwohl wir herausgefunden haben,
dass wir gegen die Schulverfassung reden können,
soviel und solange wir wollen,
ohne dass sich ein Aktendeckel hebt,
aber dass wir nur gegen die ordnungsamtlichen Bestimmungen zu verstoßen brauchen,
um den ganzen Schulaufbau ins Wanken zu bringen.
Da sind wir auf den Gedanken gekommen,
dass wir erst den Rasen zerstören müssen,
bevor wir die Lügen über den Irak zerstören können,
dass wir erst die Hausordnung brechen müssen,
bevor wir die Schulordnung brechen können.
Da haben wir den Einfall gehabt,
dass das Betretungsverbot des Rasens
und das Veranstaltungsverbot des Ordnungsamtes genau die Verbote sind,
mit denen die Politiker dafür sorgen,
dass die Empörung über die Verbrechen im Irak
wie über die vergreiste Schulverfassung
schön ruhig und wirkungslos bleibt.
Da haben wir es endlich gefressen,
dass wir gegen den Bürokratenwahn,
gegen Prüfungen, in denen man nur das Fürchten,
gegen Unterrichte, in denen man nur das Nachschlagen lernt,
gegen Ausbildungspläne, die uns systematisch verbilden,
gegen Sachlichkeit, die nichts weiter als Müdigkeit bedeutet,
gegen die Verketzerung der Emotion,
aus der die Regierenden das Recht ableiten,
über die Folterungen im Irak mit der gleichen Ruhe wie über das Wetter reden zu dürfen,
gegen Ruhe und Ordnung,
in der die Unterdrücker sich ausruhen,
gegen verlogene Rationalität und wohlweisliche Gefühlsarmut,
dass wir gegen den ganzen alten Plunder am sachlichsten argumentieren,
wenn wir aufhören zu argumentieren und diese Schule endlich verlassen.
Wir haben verallgemeinert,
wir haben alle und alles über einen Haufen geworfen
und wir waren alles andere als sachlich -
wir wollen deswegen in dieser Verallgemeinerung auch nicht mehr danken,
obwohl wir einigen gerne danken würden,
aber genauso wissen wir, dass diejenigen, denen wir danken wollen,
nach dieser Rede wissen, dass wir Ihnen danken würden, wenn wir es nur könnten.
Allen anderen wünschen wir hiermit resigniertes Glück,
auf dass sich nie etwas ändern wird!
(unter Verwendung von Motiven einer Rede von Peter Schneider, FU Berlin 1967)
Steffi und Hilkje nach ihrer Abirede, Ricarda-Huch-Schule, Hannover, 30. Juni 2006